Seit dem 30. Juni ist Addis Abbeba offline. Orthodoxe Kirchen brennen und nationalistische Mörderbanden ziehen in Oromia von Haus zu Haus.
Der weltbekannte Sänger Hachalu Hundessa wurde am 29. Juni ermordet. Seitdem sind mindestens 239 Menschen ermordet worden. Das ist bereits die dritte Welle nationalistischer Gewalt in Äthiopien seit Oktober 2019.
Angehörige der Amhara befürchten einen Völkermord wie 1994 in Ruanda. Grund dafür ist ein Aufruf des islamistischen Oromo-Nationalisten Jawar Mohammed in seinem Sender „Oromo Media Network“ (OMN). Darin forderte er die Zuhörenden Mitte Juni mehrmals auf, alle Amhara vollständig zu vernichten.
Begonnen hatte die erste Welle der Gewalt mit dem traditionellen Erntedankfest „Ireecha“. Erstmals haben die Oromo diese Zeremonie im Oktober 2020 öffentlich in der Hauptstadt Addis Abbeba durchgeführt. 2016 war dieses Festin ihrer Heimatregion Oromia von der Polizei gewaltsam aufgelöst worden, wobei mindestens 65 Tote – möglicherweise aber zehmnal so viele – zu beklagen waren.
Mit der Feier in der Hauptstadt brachen die Veranstalter jedoch eine stillschweigende Übereinkunft, wonach keine volksgruppe und keine Religionsgemeinschaft ihre Feste dort auf öffentlichen Plätzen durchführt. Orthodoxe Christen und Muslime sahen in der Feier in Addis Abbeba eine Provokation, betrachten sie das Ritual, bei dem die Beteiligten ihr Gesicht mit dem Blut eines Opfertiers einreiben, doch als „Teufelskult“. Bis dahinwar es vilen Nachbarschaften gleichgültig, welcher Volksgruppe und welcher Religionsgemeinschaft jemand angehört.
Diese Feier war Auslöser für die erste Welle der Gewalt. Sie gipfelte dann in dem Aufruf Jawars, alle Amhara vollständig zu vernichten. Bis dahin waren bereits mehr als 86 Menschen ermordet und über 30 orthodoxe Kirchen in Oromia angezündet worden.
Durch die Verleihung des Friedensnobelpreises an den äthiopischen premierminister Abij Ahmed sahen sich viele Oromo ermutigt, mehr Rechte für ihre Volksgruppe einzufordern. Sie betrachteten ihn als Oromo, wohingegen er selbst wegen seiner amharischen Mutter gern als „Äthiopier“ gesehen werden will.
Sein Verdienst, den jahrelangen Krieg mit Eritrea beendet zu haben, wird auch in Äthiopien weitgehend anerkannt. allerdings vermissten viele den inneren Frieden im Land. Ihnen sind Abiys öffentliche Auftritte oft zu werbewirksam und auf westliche Medien ausgerichtet.
Einige seiner Reformen stoßen bei konservativen Christen und Muslimen auf Unverständnis. Sie betrachten sie als Zugeständnisse an europäische Geldgeber, die dem Premierminister wichtiger seien als die äthiopische Bevölkerung. Wohlmeinende Beobachter befürchten einen starken Gegenwind gegen Abiy aus dem Machtapparat, der einen konsequenten Kampf gegen Korruption schon aus Eigeninteresse verhindert.
„Gabsüber Polizist, nachts Terrorist“, lautet ein Sprichwort in Addis Abbeba. Jedenfalls erwartete die Bevölkerung der äthiopischen Hauptstadt von der Regierung keinen wirksamen Schutz vor bewaffneten Oromo-Milizen.
Die zweite Welle der Gewalt der Oromo-Nationalisten endete mit der Ermordung von Hachalu Hundessa. In seinen Liedern hatte er eine Benachteiligung der Oromo beklagt und mehr Rechte für die größte Volksgruppe Äthiopiens eingefordert. Auf OMN berichtete der Sänger Ende Juni, dass er dafür Morddrohungen erhalten habe.
Am 29. Juni wurde Hachalu Hundessa ermordet. Daraufhin brach die dritte Welle der Gewalt in Oromia und Addis Abbeba los. Mindestens 239 Menschen sind ihr bislang in der Provinz Oromia wie auch in der benachbarten Hauptstadt zum Opfer gefallen.
Bewaffnete Oromia-Nationalisten gingen von Haus zu Haus. Wer beim Anklopfen nicht auf Orominia antwortete, musste um sein Leben bangen. Auch gemäßigte Angehörige der Oromo wurden umgebracht.
Am 17. Juli wurden zwei Verdächtige verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, Hachalu ermordet zu haben. Ein dritter Verdächtiger ist flüchtig.
Offiziellen Angaben zufolge gehören sie zu einer radikalen Organisation von Oromo-Nationalisten. Der Vorwurf lautet, sie hätten Gewalt geschürt, um dadurch einen Bürgerkrieg und einen Umsturz anzustacheln. Als Drahtzieher wurde Jawar Mohammed gefangengenommen.
Ruhe und Frieden sind seither aber noch nicht eingekehrt in Äthiopien. Seit dem 30. Juni ist das Internet in Addis Abbeba abgeschaltet. Viele Menschen verbarrikadieren sich in ihren Wohnungen und verlassen sie nur für die nötigsten Erledigungen.
All das war den meisten Medien in Deutschland kaum eine größere Nachricht wert. Lediglich die Flutung des neuen Nil-Stausees war Thema der Tagesschau. Dabei ging esaber auch um die Befürchtungen der Anrainer am unteren Flußlauf im Sudan und Ägypten, die umihre Lebensgrundlagen fürchten und deswegensogar Kriegsrhetorik verbreiten.
Die Angst der Menschen inÄthiopien umihre Lebensgrundlagen und das nackte Überlebenhingegen kam kaum vor in deutschen Medien. Während Politikerinnen und Politiker immer wieder vollmundig verkünden, sie wollten „Fluchtursachen bekämpfen“, kümmern die Nöte und Sorgen der Menschen in Äthiopien sie offenbar kaum. Man könnte das als Rassismus oder Kolonialismus deuten und sollte sich fragen, wie dieser ignorante Umgang von Medien und Politik mit einem drohenden Völkermord auf diejenigen Menschen wirkt, die ihr Land aus Furcht vor Repression verlassen haben und in Deutschland möglicherweise fürchten, nach Äthiopien abgeschoben zu werden.
Alle Debatten über Kolonialismus und Rassismus sind wohlfeile Lippenbekundungen, solange ein ganzer Kontinent in der Berichterstattung weniger Raum einnimmt als irgendeine Stadt in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) oder irgendein Fußballclub in Großbritannien. Journalistinnen und Journalisten sollten sich einmal selbstkritisch hinterfragen, wie viel Rassismus hinter der Missachtung Afrikas in den Nachrichten steckt!