Übergendern: Ein kritischer Blick zu den Sternen

Jetzt reicht´s: Nun mach mal ´nen Punkt! Der Doppelpunkt gehört wirklich nicht mitten ins Wort.
Dort, wo bisher Sternchen die Unterschiedlichkeit geschlechtlicher Identitäten ausdrücken sollten, steht neuerdings vermehrt ein Doppelpunkt. Mitten im Wort zerreißt er die Bürger draußen von denen innen. Da fragt sich der sprichwörtliche alte weiße Mann, ob er verrückt ist.
Damit meine ich nicht den alten weißen Mann, sondern den Doppelpunkt. Denn normalerweise steht dieser Doppelpunkt am Ende eines Worts, um eine wörtliche Rede oder ein zusammenfassendes Fazit vorangegangener Aussagen anzukündigen.
Nun aber frage ich mich, ob dieser Doppelpunkt versehentlich mitten ins Wort verrückt worden ist oder was er da macht. Sternchen kommen üblicherweise selten vor in Texten außer beim Gendern. Aber Doppelpunkte haben viele wichtige Funktionen.
Als blinder Journalist bearbeite ich tagtäglich ein halbes Dutzend bis ein Dutzend Texte. Bislang befanden sich darin gelegentlich die bereits bekannten Gender-Sternchen. Nun aber wimmelt es darin von Doppelpunkten mitten im Wort.
Das irritiert mich nicht nur, sondern das quält mich regelrecht. Da ich schnell und konzentriert arbeite, kostet mich dieser neue Wahn nicht nur Nerven, sondern auch Kraft. Angesichts meiner starken Sehbeeinträchtigung habe ich diese Kraft für solche Spielchen aber nicht mehr übrig!
Schon die Sternchen mitten im Wort waren eine Stolperfalle für mich. Die Sprachausgabe spricht sie als „Stern“ aus und zerbricht damit das betroffene Wort. Für mich als Mehrfachbehinderten ist es sehr anstrengend, den Faden dadurch beim Vorlesen-Lassen des Texts durch die synthetische Computerstimme nicht zu verlieren.
Doch damit habe ich mich inzwischen abgefunden. Die Bürger*Innen akzeptiere ich als Ausdruck geschlechtlicher Vielfalt. Sie verdeutlichen, dass BürgerSternInnen nicht nur Frauen und Männer, sondern auch Transgender, Lesben und Schwule sowie Intersexuelle sein können.
Problematischer war jedoch das massenhafte Gendern in Texten, wobei fast in jedem Satz mindestens ein Wort mit Stern vorkam. Das war wirklich anstrengend.
Noch schwieriger sind zusammengesetzte Wörter mit Stern. Abgesehen von der Tatsache, dass Bürger*innenbeteiligung etwas herablassend dem Bürger als Souverän ein wenig Beteiligung verheißt, erinnert mich das Bandwurmwort an Mark Twain und seinen großartigen sprachkritischen Text „The awful German Language“ über „Die schreckliche deutsche Sprache“.
Der durchaus des Deutschen mächtige US-amerikanische Autor kommt in seinem Traktat zu dem Schluss, dass Deutsch eine Tote Sprache sein muss, weil man es – im Gegensatz zu Englisch, Französisch oder Latein – innerhalb eines Lebens nicht lernen könne. Zudem mockiert sich der Erfinder des Huckleberry Finn über deutsche Bandwurmwörter. Bei der Bürger*innenbeteiligung muss ich an die Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitänsmützenlitze denken.
Wer wüsste besser um die Wichtigkeit von Sprache, wenn nicht ich? Als Journalist vollführe ich seit 35 Jahren jeden Tag den Drahtseilakt auf dem absturzgefährdeten Hochseil zwischen Hochdeutsch und Jargon, zwischen Lesenden und Lernenden, zwischen Gelangweilten und Gelackten. Sprache ist der Magnet, der Menschen in meine Texte hereinziehen soll oder sie schlimmstenfalls ratlos zurücklässt.
„Sprache ist eine Waffe: Haltet sie scharf!“ Diese Forderung von Kurt Tucholsky mag daran erinnern, dass die Sprache sehr wohl wichtig ist zur Verdeutlichung politischer oder gesellschaftlicher Positionen. Das Nachdenken über Sprache kann auch einen Anstoß zur Reflexion über politische Probleme geben. Darum ist Sprache der Klebstoff, der die Kommunikation der Menschen miteinander zusammenhält.
Bedenken gegen Wörter wie „ausmerzen“ gehören für mich ebenso zu einem bewussten Umgang mit Sprache wie die Freude an Zuspitzungen. Aber Sprache ist immer nur ein Mittel zum Zweck. Ihr Ziel ist, Zustände bewusst zu machen und vielleicht hier und da mögliches Unrecht anzuprangern oder zur Mäßigung in gefährlichem Streit aufzurufen.
Dennoch sind mir diejenigen, die die Zufahrt zum Berliner Flughafen „BER“ blockieren, um die Abschiebung geflüchteter Menschen nach Afghanistan vielleicht doch noch zu verhindern, sympathischer als die, die die Umbenennung der „Mohrenstraße“ fordern. Allerdings ist die Debatte über Straßennamen auch notwendig, um die Ehrung problembeladener Personen infrage zu stellen; doch Handeln hilft in vielen Fällen mehr. Das sogenannte „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ (BAMF) vernichtet auf Bassis letztlich rassistischer Regeln tagtäglich Existenzen, wogegen sich nur wenige laute Stimmen erheben, während die alteingesessene „Mohren-Apotheke“ für laute Erregung sorgt.
Immer noch bezeichnen Künstlerinnen und Künstler sich als „Kunstschaffende“, ohne zu bedenken, dass das ein Wort aus der Nazi-Zeit ist. Ebenso wie der „Personenkraftwagen“ – kurz „Pkw – suggeriert es „Schaffenskraft“ oder auch nur „Kraft“, die die Nazis den „arischen“ Menschen zuschrieben, wohingegen sie andere als „Schwächlinge“, als „Untermenschen“, als „unnütze Esser“ oder gar „Ungeziefer“ nicht nur sprachlich vernichteten.
Sprache ist leider manchmal auch der erste Schritt zur Ausgrenzung und in letzter Konsequenz der Vernichtung von Menschen. Eine inklusive Sprache hingegen kann dazu beitragen, dass Mitmenschen nicht vergessen werden, die sonst selten vorkommen im alltäglichen Straßenbild.
Vor 40 Jahren habe ich mir angewöhnt, in politischen Texten das „große I“ mitten im Wort einzufügen, wenn ich die Bevölkerung als „BürgerInnen“ bezeichnete. In journalistischen Texten hingegen habe ich das unterlassen, weil ich die Sprache klar und deutlich anwenden wollte.
Vor einiger Zeit habe ich mich dann zum Gender-Sternchen durchgerungen, das ich auch in journalistischen Texten sparsam angewandt habe. Wichtig war mir dabei das Signal an die Lesenden, dass ich alle möglichen geschlechtlichen Identitäten berücksichtigen wollte. Meine Bereitschaft zum Gendern war ein Zugeständnis an eine erschwerte Schreibweise als Ausdruck praktizierter Solidarität.
Doch allmählich wird es mir zu bunt. Damit meine ich nicht die Vielfalt, die mir nicht bunt genug sein kann, sondern die Einfalt, mit der einige ihre eigenen Partikularinteressen über alle anderen stellen.
Eine liebe Freundin von mir hat Mühe, Texte mit Satzzeichen mitten im Wort zu verstehen. Sie ist in einer anderen Schrift als dem lateinischen Alphabet groß geworden. Aufgrund ihrer Englischkenntnisse kann sie lateinische Buchstaben zwar lesen, muss deutsche Wörter daraus aber mit viel Mühe zusammensetzen.
Wenn Gendern wichtiger ist als die Lesefähigkeit von Eingewanderten und Blinden oder Menschen mit geistiger Behinderung, dann stimmt etwas nicht. Wenn „Identitätspolitik“ als Mittel der Machtausübung über Andere eingesetzt wird, geht der gesellschaftliche Dialog zugrunde. Vielfalt kann nämlich nur da gelebt werden, wo sie alle einbezieht und mitnimmt.
Ich bin ein „alter weißer Mann“. Mitunter sage ich das von mir selbst mit einem Grinsen. Doch allmählich empfinde ich die Altersdiskriminierung als nicht mehr nur ärgerlich, sondern gefährlich.
Vor einigen Jahren erfand der Damalige JU-Bundesvorsitzende bei der Debatte über kassenfinanzierte Hüftgelenke für Hochbetagte den zynischen Ausdruck „sozial verträgliches Frühableben“. Zu Zeiten der Corona-Pandemie rückt das Kriegswort „Triage“ wieder in die öffentliche Debatte. Beide Wörter sind eine Verschleierung für „Selektion“, wie der arzt Dr. Josef Mengele sie an der Rampe in Auschwitz vornahm.
Seit vielen Jahrzehnten kämpfe ich für eine „bessere Welt“ und gegen Ausgrenzung. Dabei habe ich Erfolge erleben dürfen und Niederlagen erlitten. Ich bin offen für viel Neues, damit sich das Klima auf dieser Erde zum Besseren ändert.
Kein Verständnis habe ich nun aber für Individuen, die Anderen ihre bevormundende Überheblichkeit in Form einer egozentrisch umdeklarierten Sprache aufzwingen. Das generische Maskulinum ist ebenso genderneutral wie das Mitglied, aus dem viele Fanatikerinnen aber schon „eine Mitgliederin“ gemacht haben. als Mitglied einer offenen Gesellschaft plädiere ich dagegen für gegenseitigen Respekt und für Sterne, die in Augen leuchten bei der Freude an den kleinen Alltagserfolgen von Mitmenschen ohne Ansehen ihrer Herkunft, ihres – wie auch immer selbst zugeschriebenen – Geschlechts, ihres Aussehens, ihrer Behinderung oder ihres Alters.

2 Kommentare zu “Übergendern: Ein kritischer Blick zu den Sternen

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